Wochenaufgabe New York - Ein Winterabend im Big Apple

Als wir unsere „Hartes Pflaster“-Serie zur Obdachlosigkeit in den USA veröffentlichten, waren wir gerade in Memphis, und es wurde langsam kälter. Inzwischen sind wir in New York City angekommen. Die Temperaturen fallen in der Nacht regelmäßig unter -20 Grad Celsius. Unsere Aufgabe für das Wochenende: Wir sollen heißen Kakao an Obdachlose und Frierende auf den Straßen verteilen. Wir finden, das klingt nach einem netten Nachmittag, und machen uns an die Arbeit.

Mit Anna zusammen gehen wir Richtung Downtown. Doch schon nach kurzer Zeit wird klar, dass die Menschen sofort misstrauisch und ablehnend reagieren, sobald wir sie fragen, ob wir sie filmen dürfen. Nicht nur das: Ein Mann will nicht einmal mehr unseren Tee annehmen, sobald wir ihm von unserem Projekt erzählen. Er flüchtet geradezu vor uns. Und wir können ihn verstehen – wir kommen uns selbst bald aufdringlich und irgendwie unehrlich vor.

Deshalb entscheiden wir uns schließlich, etwas zu tun, das Journalisten generell gar nicht gern machen: Wir packen unsere Kameras weg.

Von nun an nehmen wir nur noch den Ton auf, und nur manchmal fragen wir nach einem längeren Gespräch, ob wir noch ein Foto machen dürfen. Und von nun an bekommen wir Geschichten zu hören. Und wir lernen Menschen kennen, die uns auf unterschiedlichste Weise zutiefst beeindrucken.

I. PENN STATION

Die Tunnel von Penn Station, einer U-Bahn-Haltestelle mitten im Zentrum von Manhattan, sind bei Obdachlosen besonders beliebt. Hier sind sie nicht allein - wer nicht allein ist, wird in der Nacht nicht so leicht zum Ziel von Kriminellen, Banden, von Gewalttätern, die ein wehrloses Opfer zum Frustabbau suchen.

Viele von ihnen nehmen einen Becher, einige bedanken sich überschwänglich, andere lehnen ab und wollen lieber Geld oder eine Fahrkarte für die Metro. Wir fragen uns, warum manche lieber draußen auf dem eiskalten Bürgersteig sitzen als unten in den Tunneln, eine Antwort auf diese Frage bekommen wir aber nicht.


Wir selbst wagen uns immer nur für einige Minuten auf die Straße, dann haben wir genug vom Schneeregen und ziehen uns rasch wieder in eine der vielen Metro-Stationen zurück.


Bis wir bei allen Obdachlosen an der Penn Station waren, ist unsere Thermoskanne leer. Zum Glück haben wir noch Teebeutel dabei und können bei Starbucks und Dunkin' Donuts jeweils einmal eine neue Portion heißes Wasser bekommen.

II. RAQUEL

Draußen vor der Haltestelle kommen wir an einer Frau vorbei, die den Passanten trotzig ein gelbes Schild entgegenhält. Es ist an die örtliche Polizei gerichtet: "Hört auf, die Obdachlosen in den kältesten Nächten auf die Straße hinaus zum Sterben zu schicken!" Wir finden, sie hat zumindest einen Tee verdient. Wie sich herausstellt, hat sie noch viel mehr zu sagen als das Schild.

"Sie haben die Obdachlosen am Montag um drei Uhr morgens aufgeweckt und hinausgeworfen auf die Straße, bei zweistelligen Minusgraden. Zwei Tage später ist einer von ihnen gestorben. Sein Name war Tim, und er war fünfzig. Er war nicht alt oder gebrechlich, trotzdem ist er gestorben. [...]

 

Wo sollen sie den hin, um vier Uhr morgens? Sie können nirgendwo hin. Einige von ihnen sind körperlich behindert und können kaum laufen. Einige sind geistig nicht ganz bei sich, sie begreifen nicht, dass sie dringend ins Warme müssen. Also sterben sie einfach. Und niemand weiß davon, weil es nur Obdachlose sind.


Sie sind ohnmächtig, sie haben nichts zu sagen. Deshalb liegt diese Verantwortung jetzt bei mir, weil ich weiß, was richtig und falsch ist, und das hier ist falsch, völlig falsch. [...] Viele Leute hier haben ihr Vertrauen in Gott verloren, und ich kann es ihnen nicht verübeln. Das Leben ist hart, und es kommt immer auf die Umstände an. Aber ich habe eine Stimme, ich kann sprechen, und ich werde sprechen."

Nachtrag, 27. Februar: Natürlich haben wir auch Raquel eine Mail mit einem Link zu diesem Artikel geschickt, und sie hat uns geantwortet. Sie hat nicht nur Tim schließlich doch wieder gefunden, sondern plant auch, ein Tagebuch mit Geschichten der Obdachlosen zu schreiben, die sie bei ihrer Arbeit trifft. Ihren ganzen Brief findet könnt Ihr hier lesen.

EMPIRE STATE

Ein Mann sitzt unter einem Gerüst in einer Nebenstraße, ganz in der Nähe des Empire State Buildings. Das Gerüst schützt ihn vor dem Schneeregen, nicht jedoch vor dem eisigen Wind, der die Vorübergehenden auf schnellstem Weg ins Warme treibt. Wir gehen mit unserer Thermosflasche auf ihn zu und sprechen ihn an.

"Wie lange sind Sie schon hier draußen?"

"Etwa einen Monat. Ich kann mir keine Wohnung mehr leisten, das ist mein Problem. Es ist einfach zu teuer geworden. Alles kostet 1500 Dollar und mehr, das Geld habe ich nicht."

 

"Wo bleiben Sie heute Nacht?"

"Ich gehe zu der Alavary-Unterkunft, aber da wecken sie dich schon um fünf Uhr morgens, und um sechs Uhr werfen sie dich raus. Um diese Zeit ist das hier eine Geisterstadt, da ist hier niemand. Aber so sind die Regeln. [...]"


"Man sieht so viele Menschen hier draußen."

"Ja, es sind viele. Besonders in der Wartehalle dort drüben. Dort durfte man früher auf dem Boden schlafen, aber inzwischen nicht mehr. Sie werden alle weggeschickt. Man darf dort zwar noch stehen, dann sagen sie nichts. Aber man darf sich nicht mehr auf den Boden legen. Immerhin friert man dort nicht mehr, aber man muss die ganze Zeit stehen, man darf sich nicht einmal hinsetzen. [...] Sie kommen gegen halb zwölf Nachts, mit einem kleinen Wagen, und sagen allen sie müssten jetzt verschwinden."

DER GITARRIST

Wir hatten uns eigentlich vorgenommen, keine Videos mehr zu machen, doch als wir diesem jungen Mann noch einen Becher Tee brachten, konnten wir dann doch nicht anders. Nach einem so grauen Tag kann ein bisschen Farbe einfach nicht schaden. Und wann begegnet man schon einmal der lebenden Personifizierung des Satzes "Nichts ist unmöglich"?

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